Bin­ge Wat­ching — war­um es uns gut tut, uns in Seri­en zu verlieren

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Der TV-Konsum polarisiert: Die einen nennen es „Binge watching“ (auch „Komaglotzen“ oder „Serienmarathon“) und können Couch-Potatoes nicht leiden, die bei Netflix nichts verpassen. Den anderen bereitet es Vergnügen, Endlos-Serien wie „House of Cards“ oder „Downtown Abbey“ zu sehen und dabei die Welt um sich herum zu vergessen. Was so viele Menschen mögen, muss einen Grund haben. Wieso es uns guttun kann, uns in Serien zu verlieren, erfahrt ihr hier.

Comé­die humaine auf Ama­zon prime

End­los-Seri­en sind nichts Neu­es. Es gab sie schon vor rund 200 Jah­ren. Doch noch nicht auf Ama­zon prime oder Dis­ney plus. Sie erschie­nen in Zei­tun­gen als Vor­ab­duck von umfang­rei­chen Roman­wer­ken. Der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Hono­ré de Bal­zac etwa schuf ein sol­ches monu­men­ta­les, viel­fach in sich ver­wo­be­nes Roman­werk. Bal­zac nahm sich nicht weni­ger vor, als eine Total­an­sicht der mensch­li­chen Gesell­schaft sei­ner Zeit zu schaf­fen, der er den Namen „Mensch­li­che Komö­die“ (Comé­die humaine) gab.

 

Autoren wie Wal­ter Scott, Dos­to­jew­skij oder Tol­stoi folg­ten sei­nem Bei­spiel. Ihren Lesern bot sich die Mög­lich­keit, in frem­de Kul­tu­ren ein­zu­tau­chen, weit ent­fern­te Epo­chen auf einer lite­ra­ri­schen Groß­lein­wand ken­nen­zu­ler­nen, end­lo­sen Fami­li­en­sa­gen zu fol­gen oder Cha­rak­te­re ken­nen­zu­ler­nen, denen man nie­mals zuvor begeg­net war – oder im All­tag begeg­nen würde.

 

Die Prä­sen­ta­ti­ons­flä­che sol­cher Geschich­ten hat sich geän­dert. Ihre Inhal­te dage­gen kaum. Was wir immer noch erle­ben, ist das Mensch­li­che in allen sei­nen Variationen.

 

Wer wirst du sein, wenn die Welt untergeht?

 

Die meis­ten erfolg­rei­chen Seri­en beinhal­ten fas­zi­nie­ren­de Cha­rak­ter­ent­wick­lun­gen. Wer im rea­len Leben White Trash und Loser war, kann wie Daryl in der Zom­bie-Apo­ka­lyp­se zum Zuschau­er-Lieb­ling avan­cie­ren. Nicht umsonst ist der Hype um Nor­man Ree­dus erst durch The Wal­king Dead ent­facht wor­den. Und wen wir in den ers­ten 10 Fol­gen has­sen, wird viel­leicht in der 4. Staf­fel uner­war­tet zum strah­len­den Helden.

 

Auch „Lost“ hat­te nicht umsonst Fans und hohe Ein­schalt­quo­ten. Wir woll­ten wis­sen, wer sich wie ver­hält, ob der Böse­wicht böse bleibt oder wirk­lich böse ist, ob der Gute sein Glück fin­det. Und wir alle lie­ben den Twist, wenn etwas ganz ande­res pas­siert, als wir geglaubt hät­ten. Des­we­gen schau­en wir Seri­en: Wir lie­ben Überraschungen.

 

Cha­rak­ter­ent­wick­lung im Zeitraffer

 

Was im All­tag Jah­re dau­ert, kön­nen wir beim Seri­en­ma­ra­thon im Zeit­raf­fer erle­ben. Wir fie­bern mit, wis­sen aber, dass der Clue auf Jah­re im Vor­aus geplant war. Über Net­flix oder Ama­zon umge­hen wir die­sen Umstand – wenn wir nicht abwar­ten kön­nen, was mit unse­rem Lieb­ling in den nächs­ten Fol­gen pas­siert, schau­en wir eben alle Fol­gen auf ein­mal und freu­en uns.

 

Wir ler­nen, den­ken nach, hin­ter­fra­gen uns selbst. Wir lie­ben und has­sen, sind Teil der Geschich­te. Und wenn man abwar­tet und sich im Nach­hin­ein alle Fol­gen ansieht, hat man nicht mehr nur 45 Minu­ten wöchent­lich und dazwi­schen eine Durst­stre­cke, son­dern 2 Jah­re erzähl­te Zeit am Stück – großartig.

 

Lea­ve your pro­blems behind!

 

Ein Zau­ber von Seri­en mag in unse­rem All­tag begrün­det sein. Immer müs­sen wir irgend­et­was tun: den Brief­kas­ten lee­ren, zur Arbeit gehen, ein­kau­fen oder Mails beant­wor­ten. Aber wenn wir unse­re Lieb­lings­se­rie anma­chen, haben wir frei. Und dank Strea­ming-Diens­ten nicht nur eine Stun­de lang, son­dern solan­ge wir wol­len. Wir kön­nen einen frei­en Tag auf der Couch mit unse­ren Seri­en ver­brin­gen, ein paar Fol­gen zum Ein­schla­fen schau­en und irgend­wann ein­fach abschal­ten. Und dabei been­den wir die TV-Zeit – nicht die Macher der Serie.

Lek­tio­nen in der Schu­le des Lebens

Was macht den Reiz aus, lang andau­ern­den Geschich­ten zu fol­gen? Viel­leicht hat es damit zu tun, dass unser Leben kurz ist, die­se Form der Kunst uns aber Zeit und Raum mühe­los über­schrei­ten lässt. Was wird aus einer Per­son in der Zukunft? Wie wer­den sich sei­ne Kin­der und Enkel ent­wi­ckeln? Hier kön­nen wir es erfah­ren. Die Seri­en ent­he­ben uns aus den engen Tälern unse­rer Exis­tenz und brei­ten uns einen majes­tä­ti­schen Pan­ora­ma­blick über den wei­ten Strom des Lebens.

 

Wir ler­nen dabei Wel­ten ken­nen­ler­nen, die wir auf ande­rem Wege nie­mals betre­ten wür­den. Ohne jedes per­sön­li­che Risi­ko des Schei­terns erhal­ten wir ver­gnüg­li­chen Unter­richt in der Schu­le des Lebens.

 

Wir ler­nen Zei­ten ken­nen, in die wir spie­lend ohne Zeit­ma­schi­ne rei­sen. Ja, wenn es jemals eine Zeit­ma­schi­ne geben könn­te, ist sie in Form des Films bereits erfun­den wor­den: end­lo­ses Fut­ter für die Fantasie.

 

Wir ler­nen Ver­hal­tens­zü­ge von Men­schen ken­nen, denen wir sonst kaum jemals per­sön­lich begeg­nen wür­den. Das Publi­kum schätz­te die­se Form der infor­ma­ti­ven Unter­hal­tung bereits im Lon­do­ner Glo­be Theat­re des 16. Jahr­hun­derts, wo Shake­speares Königs­dra­men in Wel­ten führ­ten, die den Zuschau­ern sonst zeit­le­bens ver­schlos­sen geblie­ben wären. Nichts anders machen gute TV-Seri­en bis heute.

 

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Cliff­han­ger – einst und heute

Wie man es schafft, den Span­nungs­bo­gen zu hal­ten und den Inter­es­sier­ten dazu zu brin­gen, wei­ter beim Plot zu blei­ben, haben die Macher heu­ti­ger Seri­en bei den Groß­meis­tern ler­nen können.

 

„Dass Du nicht enden kannst, das macht Dich so groß.“ In die­sen Wor­ten Goe­thes lob­ten begeis­tert Leser die gro­ßen rus­si­schen Meis­ter. Heu­te sind es ver­sier­te Com­pu­ter­pro­gram­me, die an die Stel­le eines Tol­stois getre­ten sind. Zum Teil ent­wer­fen Algo­rith­men das Sto­ry­board bis in die zwölf­te Gene­ra­ti­on hin­ein. Oder eben auch talen­tier­te Autoren. Denn eine gute Serie oder ein guter Film ist nichts ande­res als ein gutes Buch – viel Arbeit, viel Herz­blut, viel Recher­che und vor allem viel Arbeit.

 

Wenn der Vor­hang fällt oder die Serie zu Ende geht, hat der Zuschau­er Dra­men erlebt, die ihn erschüt­tern. Sze­ne, die ihn zum Lachen oder Wei­nen gebracht haben. Auf­stie­ge und Unter­gän­ge ver­folgt, die ihn nach­denk­lich stim­men. Die Zeit, die er dar­in inves­tiert hat, ist gut ver­zinst. Denn er hat in vol­len Zügen aus dem Leben geschöpft.

 

„Wo könn­te man bes­ser dem All­tag so gut ent­flie­hen und sich wie­der rege­ne­rie­ren, außer in die­sem befrei­en­den Ver­gnü­gen…?“, stell­te ein­mal eine begeis­ter­te Zuschaue­rin von End­los-Seri­en fest. Wer woll­te ihr noch widersprechen…?

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